Byzanz?
Nachdem wir nun mit vielen unterschiedlichen Völkern durch die bunte Welt Europas und Nordafrikas gewandert sind und dabei nebenbei das Weströmische Reich beerdigt haben, wollen wir schauen, was aus dem östlichen Teil des Imperiums geworden ist. Wir haben dabei naturgemäß bisher immer vom Oströmischen Reich gesprochen. Nach dem Untergang des Westreiches durch die Eroberungen Odoakers und Theoderichs sah sich Konstantinopel logischerweise in der Rolle, als alleiniger unmittelbarer Rechtsnachfolger das Erbe des alten Römischen Reiches fortzuführen. Die Verwaltungsstrukturen, die Traditionen, alles ging ohne Brüche weiter. Der römische Staat als solcher blieb bestehen, auch wenn er die westlichen Provinzen und seine namensgebende alte Hauptstadt als solche verloren hatte. Seit der Gründung Roms waren über eintausend Jahre vergangen. Auch wenn die Stadt auf ideeller Ebene sicherlich noch ihre Bedeutung hatte, waren Hirn und Herz des Reiches nach Konstantinopel gewandert. Die Menschen damals sprachen weiterhin vom Römischen Reich und nannten sich »Römer« bzw. auf griechisch Rhomaioi (»Rhomäer«).
Die häufig genutzte Bezeichnung »Byzanz« für das ehemalige Oströmische Reich war die Idee eines deutschen Gelehrten namens Hieronymus Wolf (1516 bis 1580) aus dem 16. Jahrhundert. Er bezog sich auf das alte Byzantion, an dessen Stelle Konstantin seine neue Hauptstadt hatte errichten lassen. Wenn wir hier also auch vom „Byzantinischen Reich“ sprechen, setzen wir auf eine Prägung aus einer Zeit, als dieses Reich schon hundert Jahre nicht mehr existierte. Dieser Name hat sich gleichwohl mittlerweile eingebürgert, was in gewisser Weise auch sinnvoll ist, weil er verdeutlicht, dass spätestens nach der Phase der islamischen Eroberung das verbliebene Reich nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem alten Römischen Reich hatte. Als begrifflichen Wendepunkt kann vielleicht sogar schon die Regierungszeit Justinians Mitte des 6. Jahrhunderts gelten. Dieser hatte – eher durch glückliche Umstände als strategisch geplant – einen letzten Versuch unternommen, das alte Römische Reich in seiner Gesamtheit neu zu errichten. Es klappte nicht wirklich.
In der ersten Zeit wird uns einiges bekannt vorkommen. Wir haben die Zeit aus dem Blickwinkel der germanischen Völker ja bereits intensiv beleuchtet. Bevor wir aber versuchen, in unserer Erzählung die Wiederholungen in erträglichen Grenzen zu halten, wollen wir vorab einen Blick auf die Entwicklung des Christentums in der Spätantike werfen. Wir haben ja bereits verschiedentlich gesehen, welche zunehmende Bedeutung der »richtige« Glauben für das politische Handeln bekam. Dabei ist es natürlich nicht unser Anspruch, die unterschiedlichen theologischen Entwicklungen in der Tiefe zu verstehen und zu interpretieren. Dazu werden die Diskussionen zu speziell und sind nur aus der jeweiligen Zeit und politischen Situation heraus wirklich zu verstehen. Wir wollen keine Religionsgeschichte betreiben, beschränken uns also auf ein paar wesentliche Fakten – oder vielleicht besser: Glaubenssätze. Wie üblich fangen wir vorne an.
Ein gemeinsamer Stammvater
Es begann alles mit Abraham (um 2000 v. Chr.), den Juden, Christen und Moslems als einen ihrer Stammväter betrachten. Die drei Glaubensrichtungen werden ja auch als abrahamitische Religionen bezeichnet. Allgemein wird angenommen, dass es sich bei Abraham nicht um eine einzelne historische Person handelt, sondern das kollektive Gedächtnis in ihm die Geschehnisse einer ganzen Epoche gebündelt hat. Aus dem Koran erfahren wir, wie er die Götzenbilder seines Vaters zerstört und allein die größte Figur »überleben« lässt. Der versinnbildlichte Schritt von Poly- zum Monotheismus. Den war ja auch Echnaton gegangen, der, wie wir wissen, Mitte des 14. Jahrhunderts v. Chr. den ägyptischen Thron bestieg. Die Gedächtnisfigur Abraham stammte aus Ur, war Amurriter und soll auf Gottes Weisung nach Kanaan, dem Land westlich des Jordans gezogen sein. Dann hätte er etwa siebenhundert Jahre vor Echnaton gelebt und wäre der erste gewesen, der die Idee nur eines Gottes in die Welt gebracht hat. Dabei können wir die Sicht Echnatons von der der abrahamitischen Lehre dahingehend unterscheiden, dass Echnatons Verehrung sich an Aton, die Sonnenscheibe, selbst richtete, während Abraham seinen Gott als Herrn der Sonne betrachtete. Ein Unterschied von Immanenz und Transzendenz, wenn Du mir eine intellektuelle Sekunde gestattest. Wobei wir natürlich weder wissen, was Abraham, noch, was Echnaton wirklich gedacht haben mögen.
Viele Menschen, Sterne und Sandkörner
Der Erzählung nach verspricht Gott Abraham, dass er Nachkommen so zahlreich wie die Staubkörner auf der Erde oder die Sterne am Himmel bekommen solle. Das ist schon heftig. Derzeit wird von 1023 bis 1024 Sternen allein in dem bekannten Teil des Universums ausgegangen (eine Quadrillion, also eine 1 mit 24 Nullen). Dagegen sind die insgesamt etwa einhundertzwanzig Milliarden Menschen, die bisher gelebt haben, eine Quantité négligeable. Um auf die Gesamtzahl von einer Quadrillion Menschen zu kommen, benötigte es bei geschätzten 25 Jahren pro Generation und dem heutigen Wert der aktuellen Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen etwa 125 Billionen Generationen, also grob geschätzt über drei Billiarden Jahre Menschheitsgeschichte. Das ist relativ viel, wenn wir sehen, wie wir uns auch in dieser Erzählung mit den fünftausend Jahren der halbwegs dokumentierten Geschichte abmühen. Und bei dem bisherigen Alter des Universums von 13,8 Milliarden Jahren hilft dann nicht einmal mehr Elon Musk (geb. 1971), wenn wir an die langfristige Sicherung zukünftiger Lebensräume denken. Aber Gott kannte bei seinem Versprechen sicherlich auch die Zahl der Sterne in dem Teil des Universums, den wir nicht sehen können. Diese Überlegungen sind also müßig. Wir sparen uns daher die Mühe, die Berechnung auf Basis der Zahl der Sandkörner zu verifizieren. Da vermutet wird, dass es mehr Sandkörner auf der Erde gibt – allein 70 Trilliarden (7*1022) in der Sahara – als Sterne im sichtbaren Weltall, würde die langfristige Zukunftsperspektive nicht wirklich anders aussehen.
Die Gnade der späten Geburt
Wir wollen nicht abschweifen und kommen zurück zu Abraham. Im Alter von 70 Jahren war seine Frau Sara immer noch nicht Mutter geworden. Sie glaubte nicht mehr an die Verheißung und schickte die Sklavin Hagar zu Abraham. Diese wurde prompt schwanger. Ihr Sohn Ismael ist in dieser Geschichte der Stammvater der Araber. Abraham soll ihn und Hagar in der Gegend von Mekka zurückgelassen habe, wo Ismael dann die Kaaba gebaut habe. Gott hielt in Folge allerdings doch noch sein Versprechen. Sara wurde schwanger und gebar Isaak. Der heiratete Rebekka, eine Enkelin von Abrahams Bruder Nahor. Sie bekamen zwei Söhne, Esau und Jakob. Auch bei Rebekka und Isaak müssen wir wie bei Abraham und Sara von Spätentwicklern sprechen, denn die ersten 20 Ehejahre blieben erst einmal kinderlos. Jakob hatte es faustdick hinter den Ohren. Er kaufte für ein Linsengericht seinem Bruder das wichtige Erstgeburtsrecht ab und erschlich auch den entsprechenden Segen bei seinem blinden Vater Isaak. In Folge bekam er zwölf Söhne von vier Frauen. Die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern kannst Du natürlich in der Bibel, aber auch bei Thomas Mann nachlesen. Ein dickes Buch, aber es lohnt die Lektüre. Diese zwölf Geschwister sind die Stammväter der zwölf jüdischen Stämme.
Das alles ist Erzählung. Allerdings eine, an die viele Menschen glauben. Um die Zeitwende sind sich die Menschen in Israel sicher, dass sie von diesen zwölf Stämmen abstammen. Nachprüfbare Belege zu deren historischer Existenz sind bisher leider nicht gefunden worden.
Ysrjr in Ägypten
Wirkungsmächtig für die jüdische Geschichte ist die Zeit der Versklavung in Ägypten bis zur Zeit von Ramses II. Die Einwohner Kanaans, das ist wie gesagt der Landstrich zwischen Mittelmeer, Totem Meer und dem See Genezareth, waren, so wird erzählt, aufgrund einer Hungersnot in das reiche Land am Nil gezogen, wo sie dann als Zwangsarbeiter bleiben mussten. Auch hierfür gibt es kaum archäologischen Belege, zumindest aber eine Inschrift aus der Zeit von Ramses Sohn Merenptah. Auf einer Stele wird ein Volk in Kanaan mit dem Namen Ysrjr erwähnt. So ist es auch mehr Glaubenssache, dass Moses die Israeliten durch das geteilte Rote Meer wieder in die Heimat geführt habe. Unterwegs erhielt er dann auf dem Berge Sinai die Zehn Gebote von Gott persönlich.
Menschen mit einer Veranlagung zur Akribie weisen auf den genauen Text des ersten Gebotes hin. Es heißt dort nicht »Es gibt keine anderen Götter außer mir«, sondern lediglich »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir«. Daraus ließe sich ableiten, dass es diese Götter vielleicht doch geben könnte. Angesprochen ist das Volk Israel, das »aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, herausgeführt« wurde, nicht jedoch die gesamte Menschheit. Wir enthalten uns in kluger Selbstbescheidung tieferer Analysen, und interpretieren das hier geforderte Treuebekenntnis nicht als Beleg für die Existenz anderer Götter. Eher ist es einer Zeit geschuldet, in der es eben noch viel heidnischen Götterglauben gab, der Zweifler und Unsichere schnell auf Abwege hätte führen können. Die Bedeutung dieses Schrittes zum Monotheismus macht uns der Historiker Heinrich August Winkler deutlich: "Der Gedanke der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz hätte sich kaum durchgesetzt, wäre dem nicht der Glaube vorausgegangen, dass es nur einen Gott gibt, vor dem alle Menschen gleich sind."
Aus der Zeit nach der Rückkehr ins gelobte Land gibt es neben den Berichten der Bibel wenig Zeugnisse. Wir haben uns mit dieser Zeit bereits im Zusammenhang mit der Geschichte Kleinasiens befasst und wollen uns nicht zu sehr wiederholen. Irgendwann tauchte ein Prediger auf, Jesus mit Namen. Dessen Geschichte haben wir bereits erzählt, wollen hier nun auf die politischen Entwicklungen schauen, die sich aus der Verbreitung der christlichen Lehre nach Jesu Tod ergaben.
Jesus
Der Wanderprediger Jesus war der Mann der kleinen Leute. Er zog durch die Dörfer rund um den See Genezareth und mied die Städte. Er war Single, grenzte sich auch von seiner Familie ab. In seinem Gefolge waren gleichfalls viele, die ihre Bindungen zu Familie, Beruf und Herkunft abgebrochen hatten. Der Wendepunkt kam im Jahr 30, als Jesus nach Jerusalem zog. Judäa war seit Pompeius‘ Eroberungszug 63 v. Chr. Teil des Römischen Reiches. Dort regierte seit vier Jahren Pontius Pilatus als Statthalter. Er war dabei auf das Synhedrion angewiesen, den Hohen Rat der jüdischen Hohepriester, Ältesten und Schriftgelehrten, eine eher traditionell-konservative Veranstaltung. Mittelpunkt des jüdischen Lebens war den Tempel, von dem heute nur noch ein Teil der von Herodes als Erweiterungsbau errichteten westlichen Umfassungsmauer erhalten ist. Wir kennen diesen Teil als Klagemauer. Natürlich gab es unter den Juden – so wie heute auch – unterschiedliche Gruppen. Neben den eher orthodoxen Pharisäern standen die eher pragmatisch orientierten Sadduzäer, die weniger durch die Schriftgelehrten als durch die städtische Oberschicht geprägt waren. Daneben gab es die Gruppe der Essener, die in klösterlicher Abgeschiedenheit lebten und die Zeloten, die sich dem bewaffneten Kampf gegen die römische Herrschaft verschrieben hatten. Von Masada haben wir ja schon gehört.
Das Ende von Jesus haben wir bereits erzählt. Schauen wir das nächste Mal, was aus seiner Lehre wurde.