Nach den Bulgaren wollen wir uns dieses Mal die Awaren anschauen, die im Jahr 626 knapp davor waren, die Geschichte des Byzantinischen Reiches abrupt zu beenden. Da lohnt dann schon mal ein Blick.
Ursprünge
Bereits 70 Jahre zuvor, im Winter 557/558, hatte Justinian Besuch einer awarischen Delegation bekommen. Die Einwohner Konstantinopels waren beeindruckt. Insbesondere die Haartracht der Gesandten erregte Aufmerksamkeit. Vielleicht kein klassischer Vokuhila-Schnitt, aber hinten ganz lang und mit Bändern geflochten, das sah man nicht alle Tage. Sie kamen aus der Steppe nördlich des Kaukasus, wobei es wenig Quellen gibt, aus denen wir auf den Ursprung dieses Volkes schließen können. Mit dieser Unsicherheit haben wir mittlerweile gelernt zu leben. Aus Genanalysen lässt sich eine Verwandtschaft zu Völkern aus dem Nordosten Zentralasiens, also aus der Mongolei, Kasachstan und Nordchina ableiten.
Wahrscheinlich wurden sie durch die Expansion des kök-türkischen Khaganats vertrieben und waren nun auf der Suche nach einer sicheren Heimat. Wie bei vielen Völkern, die uns in der Völkerwanderungszeit über den Weg gelaufen sind, können wir auch bei den Awaren nicht von einer ethnisch homogenen Struktur ausgehen. Gerade, wenn es zu Vertreibungen und Eroberungen kommt, spalten sich unterlegene Gruppen häufig auf und die einzelnen Teile verbinden sich mit anderen, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist. So mag es auch sein, dass die Awaren sich aus Resten vieler Stämme, beispielsweise der Rouran oder der Oguren zusammenfanden.
Stammväter seien die Herren War und Chunni gewesen, weshalb die Awaren von manchen auch als Warchoniten bezeichnet wurden. Die beiden, War und Chunni, waren aller Wahrscheinlichkeit nach keine historischen Personen. Es mag aber Volksgruppen mit diesen Namen gegeben haben, wobei man dann von den Chunni auf die Xiongnu zurückschließt, die wir als mögliche Vorfahren der Hunnen bereits diskutiert haben. Bei den War oder Uar werden dann Bezüge zu den Hephtalithen hergestellt. Wir lernen mal wieder, dass die Geschichte von viel Unsicherheit geprägt ist.
Zumindest hatte der Name dieser Völkerschaften Klang und wurde daher sicher auch gerne genutzt, um anderen ein wenig Respekt einzuflößen. Wir werden uns all diese Völker – naja, zumindest einige – noch einmal anschauen, wenn wir den Blick nach Ostasien wenden und Indien, China, aber eben auch die Khaganate der Kök-Türken und andere betrachten. Aber ich will nicht zu viel versprechen. Eine zusammenhängende, auf eine Region beschränkte Geschichte wie die der Römer oder Griechen oder die des gerade im Fokus stehenden Byzantinischen Reiches wird dabei wohl nicht herauskommen. Warten wir es ab und schauen ein wenig näher auf die Awaren.
Baian baut ein Reich
Es gibt wenig Awaren, über die wir halbwegs gesichert konkret berichten können. Der Anführer der Delegation, die bei Justinian auftauchte, soll Kandich (um 560) geheißen haben, sein Chef war ein Herr namens Baian (reg. etwa 562 bis 602). Dies ist dann allerdings auch der einzige Khagan (also Großkhan), von dem wir den Namen wissen. Wir können uns das Auftreten der Awaren vor Justinian ähnlich dem der Hunnen vorstellen. Anmaßend ist vielleicht ein etwas zu schwaches Wort dafür. Justinian zeigte sich aber nicht beleidigt. Er sah in den Awaren eine Chance, die von ihm vernachlässigte Balkanfront bis hin zum Schwarzen Meer zu sichern. Also gab er ihnen nahezu alles, was sie verlangten. Fast alles, denn feste Landzuweisungen versagte er ihnen. Geld in Form jährlicher Zahlungen und Geschenke mussten reichen. Reichten auch erst einmal.
Wie erwartet konnten sie Onoguren, Sabiren, Zalen, Anten und Utiguren zurückschlagen. Mit Letzteren hatte Justinian bereits ein Bündnis gegen die Kutriguren geschmiedet, nun hegte er sie selbst durch die Awaren ein, gegen deren mögliche Expansion er sich wiederum durch ein Bündnis mit den Türken absicherte. Viele Bälle waren in der Luft.
Das justinianische Absicherungssystem funktionierte nur eine kurze Zeit. Die Energie der Awaren ließ sich durch irgendwelche Verträge oder Risiken nicht aufhalten. Inwieweit Baian als Person der wesentliche Treiber war und in welchem Umfang die gesamte Entwicklung der Region den Awaren in die Hände spielte, lässt sich schwer einschätzen.
Auf jeden Fall forderten sie bereits zu Beginn der 560er Jahre den bisher seitens Konstantinopels verweigerten Siedlungsraum südlich des Donaudeltas. Von dort war es nicht weit in die Steppen nördlich des Schwarzen Meeres, aber auch die Hauptstadt der Römer lag in relativer Nähe. Justinian bot dagegen Land in Pannonien, wo er sich zudem eine Absicherung gegen die Gepiden erhoffte. Von deren Vernichtung durch die Langobarden, die sich mit den Awaren verbündet hatten und dem Schicksal Kunimunds und Rosamundes haben wir bereits gehört. Die Kämpfe nutzte Justin – das ist der Feldherr, der dann nicht Kaiser werden sollte –, um die Donaugrenze zu sichern.
Baian war ein strategischer Kopf. Er verzichtete zunächst auf Auseinandersetzungen mit Byzanz und wandte sich stattdessen gegen das aufstrebende Reich der Franken. Nach einer ersten Niederlage konnte er beim zweiten Versuch sogar deren König Sigibert I. von Austrasien (etwa 535 bis 575, reg. 561 bis 575) gefangen nehmen. Dessen Freilassung brachte ein hohes Lösegeld. Wir erinnern uns, dass die Herrscher dieser noch nicht regional gesettelten Völker immer sehr vom Wohlwollen ihrer Krieger abhingen. Da war Beute und Lösegeld immer willkommen.
Nachdem 568 die Langobarden nach Italien gezogen waren, konnten die Awaren die pannonische Tiefebene besetzen, eine Gegend, in der Justinian sie ein paar Jahre zuvor bereits gerne gesehen hätte. Seine Expansionspolitik setzte Baian mit der Unterwerfung der slawischen Völker in Südosteuropa fort. Auch in Böhmen, Mähren und der Slowakei war er erfolgreich. Seine Eroberungszüge nach Süden in die römischen Balkanprovinzen führten nach drei Jahren 571 zu einem Friedensschluss mit Justin II., der dem Awarenherrscher entsprechende Tributzahlungen einbrachte. Byzanz hatte zu der Zeit mit den Persern genug zu tun, so dass es im Westen Ruhe brauchte. Bis zum Ende der 580er-Jahre konnte Baian immer weitere militärische Erfolge erzielen und sein Herrschaftsgebiet Stück für Stück vergrößern. Das vielumkämpfte Sirmium wurde erobert, bis nach Thrakien reichte sein Einfluss. Er war auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Vieles ging gut, aber selten geht etwas immer gut. Das Blatt wendete sich um 591. Maurikios, zu der Zeit Kaiser in Konstantinopel, bekam nach einem vorteilhaften Friedensschluss mit dem persischen Großkönig Truppen frei, die er in Teilen auf den Balkan schickte. Baian konnte noch einige Jahre eine direkte Konfrontation vermeiden und schöpfte 597 sogar wieder den Mut, in die Balkanprovinzen einzufallen. Dies auch weil er von der fränkischen Königin Brunichild (um 545/550 bis 613), der Ehefrau des 575 ermordeten Sigibert I. und nun Regentin Austrasiens, Tributzahlungen erhalten hatte. Er schaffte es bis vor Konstantinopel, wo er allerdings sieben seiner Söhne bei einem erneuten Aufflackern der Pestepidemie von 541 verlor. Zudem waren die Byzantiner die ewigen Vorstöße satt und verwüsteten in einem längeren Feldzug von 599 bis 602 das Banat, einen Teil des awarischen Herrschaftsgebietes. Dabei starben nicht nur drei weitere Söhne Baians. Viel wichtiger war die Botschaft, dass es den Awaren nicht gelang, in ihrem eigenen Land zu siegen und ihre eigenen Leute zu beschützen.
Die Belagerung von Konstantinopel
Baian starb 602. Seine Nachfolger, zunächst vermutlich Baian II. (reg. 602 bis 617), die Namen der weiteren kennen wir nicht sicher, hatten Glück, dass es Maurikios ihm im gleichen Jahr – eher unfreiwillig – nachtat und sein Mörder und Nachfolger Phokas den Feldzug bald abbrach. Maurikios hatte seine Truppen nördlich der Donau überwintern lassen wollen, was diese nur bedingt gut fanden. Der Grund für Phokas‘ Zurückstecken war nicht allein sein empathisches Eingehen auf die Bedürfnisse seiner Soldaten. Vielmehr beunruhigten ihn die Perser, die zu Maurikios ein ausgesprochen gutes Verhältnis hatten und insofern in Phokas‘ Usurpation ein Problem sahen. Auf einen Überfall aus Osten wollte er vorbereitet sein.
So hatten die Awaren noch eine zweite Chance, die sie in Teilen auch nutzen konnten. Nach Erfolgen gegen die Langobarden im Friaul im Jahr 610 sowie gegen die Franken 611 wurde ab 612 mal wieder der Balkan geplündert. Bis Mitte der 620er Jahre hielt diese Hochphase der Awaren an.
623/624 schloss Herakleios, mittlerweile Nachfolger von Phokas, mit ihnen einen Friedensvertrag, natürlich gegen beträchtliche Tributzahlungen. Er benötigte jedoch Handlungsfreiheit, um sich um die Perser kümmern zu können. Mit der Sicherheit einer beruhigten awarischen Front im Westen konnte er nach Armenien aufbrechen, um in dem bekanntermaßen umstrittenen Gebiet die eigenen Positionen zu verteidigen. Dass sich dann, Friedensvertrag hin oder her, die Awaren mit den Persern verbündeten, stand nicht in seinem Plan.
Ende Juli 626 standen sie mit angabegemäß 80.000 Mann vor Konstantinopel, auf der anderen Seite des Bosporus lagerten die Perser. Ein Gedanke Chosraus war es sicher, durch diese Bedrohung Herakleios aus Armenien wegzulocken, wo beide gerade gegeneinander kämpften. Das Byzantinische Reich befand sich insgesamt in einer absoluten Schwächephase, insbesondere seitdem die Perser 618/619 das reiche Ägypten erobert hatten. Herakleios ließ Münzen mit der Aufschrift "Gott, hilf den Römern!" (Deus adiuta Romanis) prägen. Auf die Hintergründe kommen wir sicher noch zu sprechen. Auch der Khagan der Awaren hatte allerdings Handlungsdruck. Was auf dem Balkan geplündert werden konnte, war mittlerweile geplündert, es blieben nur noch die befestigten Städte. Zudem hatte bereits 624 der böhmisch-mährische Fürst Samo einen Aufstand organisiert. Der Mythos der Unbesiegbarkeit der Awaren war ja längst Vergangenheit, da traute man sich schon mal so etwas.
So stand 626 das Reitervolk der Awaren also vor den von Theodosius II. errichteten Mauern Konstantinopels und sollte belagern. Das Belagern an sich gehört allerdings nicht zur Komfortzone eines Reiterkriegers. Zum einen wird wenig geritten und zum anderen kann es dauern, bis es Beute gibt. Die Perser auf der anderen Seite des Bosporus hatten darin sicherlich mehr Erfahrung, vielleicht vertrauten die Awaren einfach darauf, dass die Perser es schon richten würden. Aktiv werden mussten sie aber erst einmal selber, da die Stadt nun mal auf ihrer Seite des Meeres lag, auf dem die Byzantiner die Vorherrschaft behaupten konnten.
Der Kaiser war in Armenien, so lag die Verteidigung der Stadt in den Händen des Heermeisters Bonos (gest. 627) und des 14jährigen Thronfolgers und späteren Kurzzeitkaisers Konstantinos III., die durch den Patriarchen Sergios I. (gest. 638, amt. 610 bis 638) unterstützt wurden. Man schickte am 30. Juli sogar noch Vieh zu den Awaren, in der Hoffnung doch noch zu einem friedlichen Ausgleich zu kommen.
Das funktionierte nicht. Schon am 31. Juli begannen die Angriffe, am 01. August sogar mit Belagerungsmaschinen und -türmen. Am 02. August begab sich eine byzantinische Delegation zum Khagan, um über einen Friedensschluss zu verhandeln. Der bestand jedoch auf der Übergabe der Stadt, auch in der Annahme, dass es für Konstantinopel kein Entrinnen mehr geben könne. Was er übersah, war, dass die Flotte des Kaisers noch den Bosporus beherrschte. Schließlich gelang es dieser auch, die Boote zu überwältigen, mit denen die Soldaten des Großkönigs übergesetzt werden sollten. Die persische Karte war gespielt, aber sie hatte nicht gestochen. Gegen die Befestigungen der Stadt waren die Awaren alleine hilflos, zumal sich ein Entsatzheer unter Führung von Theodoros (etwa 610 bis 636), dem Bruder des Kaisers, näherte. Immerhin waren die Awaren schnell von Begriff. Am 08. August waren sie nahezu vollständig abgezogen. Eine gute Woche hatte die Aktion gedauert, da sind wir durchaus anderes gewohnt, wenn wir beispielsweise an Nebukadnezar oder Alexander vor Tyros denken.
Slawenaufstand und Niedergang
Die gescheiterte Belagerung markierte einen Wendepunkt in der awarischen Geschichte. Was als Höhepunkt ihrer Macht gedacht war, wurde zum Beginn ihres Niedergangs. Immer mehr regte sich Widerstand, insbesondere bei den unterworfenen Slawen. Von Samo haben wir ja schon gehört. Sein Aufstieg begann – vermutlich in der Nähe von Wien – mit einem Aufstand gegen die Awaren. Die waren gerade vor Konstantinopel mit ihrer Belagerung beschäftigt, so dass Samo die Unzufriedenheit der slawischen Bevölkerung gut ausnutzen konnte. Militärdienst, Tributzahlungen und winterliche Einquartierungen hatten die Bereitschaft zu rebellieren so weit erhöht, dass der Erfolg kein Zufall mehr war. Auch die Kinder, die die Folge des Zusammenlebens im Winter waren, die also awarische Väter und slawische Mütter hatten, stellten sich auf Samos Seite.
Ende des 7. Jahrhunderts herrschten die Awaren noch in dem Gebiet des heutigen Österreich, der Slowakei, Sloweniens, Ungarns und Rumäniens sowie im Osten bis an Dnjestr. Ende des 8. Jahrhunderts ging es dann zu Ende. Nach einer Niederlage im Jahr 740 gegen die Bayern unter Herzog Odilo (vor 700 bis 748, reg. 736 bis 748) blieb es zunächst lange friedlich. 788 kam es dann zu den ersten Auseinandersetzungen mit den Franken, die ja 774 die Herrschaft im bisher mit den Awaren verbündeten Langobardenreich übernommen hatten. Die Awaren griffen im norditalienischen Friaul an, holten sich aber eine blutige Nase. Viel schlimmer war, dass sie die Franken auf den Geschmack gebracht hatten.
Erste Erfolge auf dem Ybbsfeld in Österreich führten 791 zu einem richtiggehenden Krieg Karls gegen die Awaren. Auch wenn dabei nicht alles glatt lief, war seine Übermacht doch zu stark, zudem schwächten sich die Awaren durch innere Streitigkeiten. 795 bat man um Frieden und bot den Übertritt zum Christentum an. Karl wollte die Sache aber endgültig zu Ende bringen und griff erneut an. Dass seine Einschätzung richtig war, zeigte sich nach seinem Sieg 796. Der Anführer der Awaren unterwarf sich zwar, sein Treueversprechen hielt er jedoch nicht lange. 797, 799 und 803 kam es zu Aufständen, die aber alle keinen nachhaltigen Erfolg hatten. In den folgenden Jahren waren die Awaren den Franken tributpflichtig und mussten sich der Angriffe der umliegenden Völker, unter anderem der Bulgaren, erwehren.
Auf die Frage, was zum Niedergang ihres Reiches geführt habe, soll es die Antwort gegeben haben, dass dies an Rechtsstreitigkeiten, Handelsgeschäften und übermäßigem Weingenuss gelegen habe. Insbesondere der dritte Grund gibt uns zu denken. 828 war dann endgültig Schluss, der fränkische Kaiser Ludwig der Fromme (778 bis 840, reg. 814 bis 840) löste das awarische Fürstentum unwiderruflich auf. Ihr Siedlungsgebiet östlich von Bayern wurde in den nächsten Jahrzehnten auch als Bayerisches Ödland bezeichnet.
Das nächste Mal gehen wir dann zurück nach Konstantinopel, wo mit dem Tod Justinians der letzte Versuch gestorben war, das alte Römische Reich neu zu errichten.