Expansion
568 v. Chr. ergab sich Tyros nach langer Belagerung Nebukadnezar II. Karthago war »frei« und nutzte diese Freiheit, den eigenen Herrschaftsanspruch deutlicher zu zeigen. Es gelang, die phönizischen Kolonien im westlichen Mittelmeer zu einem Handelsimperium zu vereinen. Auf Sizilien konnte sich Karthago als Schutzmacht phönizischer Siedlungen, die von griechischen Kolonien bedrängt wurden, etablieren. Wir schauen gleich noch darauf, wie das gelang. In ähnlicher Form wurde Sardinien ein Teil des karthagischen Einflussbereiches. Hervorzuheben ist, dass Karthago seine Verbündeten immer an einer ziemlich langen Leine laufen ließ. Mit den Etruskern verbündet schlug Karthago etwa um 540 v. Chr. die Flotte der Phokaier, ionischer Siedler, die auf der Flucht vor den Persern in ihre korsische Kolonie Alalia ausgewandert waren. Korsika wurde nicht besetzt, es blieb gewissermaßen ein Kondominium gemeinsam mit den Etruskern. Auch hier galt: Politische Macht war Karthago zweitrangig, solang der ungestörte Handel sicher war.
Die guten Beziehungen zu den Etruskern hielten Karthago auch davon ab, auf der italienischen Halbinsel Fuß zu fassen. Bereits einige Jahrhunderte zuvor waren hier im Süden die Griechen den Phöniziern zuvorgekommen.
Auch in Südspanien klappte diese Methode. Die Einwohner von Gades, dem heutigen Cádiz an der Südspitze der Halbinsel, riefen die Karthager in einem lokalen Konflikt um Hilfe. Diese kamen, siegten und blieben. Von hier ausgehend befuhren sie auch den Atlantik und besetzten Madeira, die Kanaren und die Azoren – das ist die Vermutung. Was hier auch immer »besetzen« heißt, sie werden nach Rohstoffen und Handelsmöglichkeiten gesucht haben.
In Nordafrika war es nur eine Frage der Zeit, bis Karthago das heutige Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen unter seine Herrschaft bringen konnte. Allerdings handelte es sich dabei lediglich um eine Ansammlung von Enklaven an handelsstrategisch günstig gelegenen Orten, nicht um eine systematische Eroberung des gesamten Gebietes einschließlich des Hinterlandes. Lange zahlte Karthago auch Pachtzins an libysche Fürsten – solange, wie dies der einfachere Weg war, die Handelswege sicher zu halten. In dieser Strategie liegt wohl auch der Grundstein für das letztliche Scheitern Karthagos. Rom konnte sich im Krieg gegen Pyrrhus auf seine Bundesgenossen verlassen, Karthago nicht auf die Berberstämme im Kampf gegen Rom.
Expeditionen
Wichtiger – oder zumindest spannender – als die Eroberungen Karthagos sind die Expeditionen, die Karthager unternahmen. Als echte Handelsleute waren sie immer auf der Suche nach neuen Märkten und Rohstoffquellen. Zwei Männer stachen hierbei besonders hervor – zumindest unter denen, von denen wir heute Kenntnis haben: Hanno „der Seefahrer“ (reg. 480 bis 440 v. Chr.) und Himilco (spätes 6. Jh. v. Chr.). Hanno gelangte auf seiner Expedition im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts wohl bis zum Äquator nach Gabun. Himilco war bereits einige Zeit früher in die entgegengesetzte Richtung nach Norden gesegelt und hatte es vielleicht bis nach Südengland geschafft. Inwieweit er die dortigen Zinnvorkommen für seine Heimatstadt hatte nutzbar machen können, wissen wir allerdings nicht.
Je weiter das Netz der karthagischen Handelsrouten reichte, desto größer mussten die Anstrengungen werden, diese vor Piraterie und Angriffen anderer Staaten zu schützen. Dies war der Ausgangspunkt der karthagischen Kriegsmarine. Militärische Macht war für kleinere Staaten oft auch Hoffnung. Sahen sich diese von außen bedrängt, suchten sie nach Hilfe und je stärker Karthago wurde, desto häufiger kamen andere auf die Idee, sich durch Karthago helfen zu lassen. Und Karthago dachte wie immer pragmatisch. Durch geleistete militärische Hilfeleistung wurden Abhängigkeiten geschaffen, die wirtschaftlichen Nutzen versprachen. Auf diese Weise entstand das karthagische Reich.
Kampf um Sizilien
Ein Blick auf die karthagische Expansion zeigt, dass sie im Wesentlichen auf die westliche Hälfte des Mittelmeeres (und darüber hinaus in den Atlantik) gerichtet war. Die vermeintliche Vernachlässigung des Ostens hatte zunächst den Grund, dass dies der originäre Einflussbereich der Mutterstadt Tyros und der anderen phönizischen Städte war. Die Handelsinteressen konnten mit diesen sicherlich halbwegs einvernehmlich geregelt werden.
Mit den Jahren kam es jedoch vermehrt zu Konflikten mit den griechischen Poleis. Wesentlicher Grund hierfür war die griechische Herrschaft über Sizilien, welches wiederum Karthago zu nahe war, als dass man die Leute dort hätte schalten und walten lassen können, wie es ihnen beliebte. Die Hilferufe der phönizischen Stützpunkte waren da ganz willkommen. Seit Mitte des 6. Jahrhunderts gab es eine Reihe von Auseinandersetzungen, die alle hier aufzuzählen Dich und mich ermüden würde.
Das erste Mal interessant wurde es 480 v. Chr. Die Theorie, dass sich der persische Herrscher Xerxes I. vor seinem Feldzug gegen die Griechen dahingehend abgesichert hat, dass er Karthago »bat«, die potentiellen Bundesgenossen seines Feindes, nämlich die griechischen Kolonien im Westen, insbesondere auf Sizilien, durch ein paar Angriffe zu »binden«, hat schon was für sich. Für Karthago hatte das Ding viele Vor- und kaum Nachteile. Eine persische Niederlage gegen die Griechen war äußerst unwahrscheinlich. Frühzeitig auf der Seite des Siegers zu sein, hat noch keinem geschadet. Und wenn zu alledem noch Sizilien quasi als Provinz heraussprang – wer wollte den freundlichen Gesandten aus Persien da absagen?
Na ja, erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt. Xerxes unterlag und Karthago erhielt auf Sizilien Prügel. Gelon (gest. 478 v. Chr., reg. etwa 485 bis 478 v. Chr.) hieß der Tyrann von Syrakus, der den karthagischen König Hamilkar I. (reg. 510 bis 480 v. Chr.) bei Himera im Jahr 480 v. Chr. in die Niederlage und den Selbstmord trieb.
Doch man sieht sich immer zweimal. Dies gilt auch für Himera und Karthago. Allerdings dauerte es volle siebzig Jahre, bis sich Karthago von dem Schock der ersten und daher noch ziemlich ungewohnten Niederlage erholt hatte. In dieser Zeit ließ Karthago Sizilien Sizilien sein, es hatte dort immerhin noch einige Verbündete und Stützpunkte und konzentrierte sich auf den Handel und seine Machtausweitung in Afrika und jenseits von Gibraltar.
Im Jahr 410 v. Chr. drangen jedoch Hilferufe aus Sizilien herüber, diesmal von Segesta, das sich zusehends vom griechischen Selinus bedrängt sah. Und immer, wenn der Handel in Mitleidenschaft zu geraten drohte, reagierte Karthago. So auch diesmal. Und diesmal erfolgreicher. Hannibal (reg. 440 bis 406 v. Chr.) – nicht der, an den Du jetzt denkst! – hatte mehr Glück als sein Großvater Hamilkar. Er belagerte und zerstörte Selinus und – weil er gerade in der Gegend war – zog er nach Himera und tat dort Gleiches. Opa war gerächt und Karthagos Macht wieder ein Stückchen gewachsen.
Nebenbei sei erwähnt, dass Forscher aus der Analyse von Überresten gefallener Soldaten deren Herkunft nachweisen konnten. Sowohl Karthager als auch Griechen setzten in den beiden Himera-Schlachten nicht nur Söldner aus anderen Regionen des Mittelmeerraums ein, sondern auch aus entfernteren Regionen wie dem Kaukasus, Nordosteuropa oder Skythen aus der eurasischen Steppe. Diese Schlüsse ergeben sich sowohl aus DNA-Analysen als auch aus dem Verhältnis verschiedener Strontium- und Sauerstoff-Isotope in den gefundenen Zähnen und Knochen. Auch wenn man Archäologie studieren will, sollte man also im Chemie-Unterricht aufpassen.
In den Folgejahren konnte ganz Sizilien unter karthagische Herrschaft gebracht werden. Ganz? Nein. Doch diesmal war es kein kleines gallisches Dorf, das der Großmacht widerstand, sondern die bedeutendste Stadt der Insel: Syrakus.
»Zu Dionys dem Tyrannen schlich Damon, den Dolch im Gewande …« lehrt uns Schiller. Leider kannten den die Karthager noch nicht. Sonst hätten sie sich vielleicht mit einem erfolgreicheren Attentäter als in Schillers Ode viel Ärger erspart. Schillers Vorbild, der syrakusische Tyrann Dionysios I. (um 430 bis 367 v. Chr., reg. 405 bis 367 v. Chr.) schaffte es nämlich, die sizilischen Griechen, von denen nun viele unter karthagischer Herrschaft standen, aufzustacheln. Mit dieser Basis fühlte er sich stark genug zum Krieg. Er musste handeln, wenn er nicht auch irgendwann seine Unabhängigkeit verlieren und unter punische Herrschaft gelangen wollte. In den ersten Jahren dieses langen, dreißigjährigen Krieges (397 bis 367 v. Chr.) hatte er auch Erfolg. Eine Reihe sizilischer Städte konnten seinem Machtbereich einverleibt werden. Letztlich erwies sich jedoch Karthago als stärker – ironischerweise, indem es die Taktik des Dionysios zur eigenen machte und die Angst der lokalen Stämme und Städte vor dessen Herrschaft ausnutzte. Nachdem sie Dionysios vernichtend geschlagen hatten, diktierten sie nur einen milden Frieden – mit der Folge, dass es bald wieder losging. Erst der Tod des Tyrannen 367 v. Chr. beendete den Krieg. Karthago hatte sich auf Sizilien behauptet, konnte jedoch Syrakus nie erobern.
Das ging dann auch nicht lange gut. Bereits 342 v. Chr. – nach einigen innersyrakusischen Kämpfen – drängte diese Stadt wieder aus ihren Mauern und brachte karthagische Städte in ihren Einflussbereich. Der Erfolg von Timoleon (um 411 bis nach 337 v. Chr.), dem seinerzeit von der Mutterstadt Korinth entsandten Herrscher von Syrakus, war jedoch nicht so nachhaltig, dass Karthagos sizilischer Machtbereich in seinen Grundfesten erschüttert wurde.
Kritisch wurde es erst in den Jahren zwischen 311 und 306 v. Chr. Agathokles (361 bis 289 v. Chr., reg. 315 bis 289 v. Chr.) hieß der Mann, der Karthago das erste Mal in seiner Existenz bedrohte. 315 v. Chr. durch einen blutigen Staatsstreich in Syrakus an die Macht gekommen, begann er aufzurüsten. Karthago hielt sich an die gültigen Verträge und sah zu. Absolute Vertragstreue ist zwar lobenswert, in der Politik aber nicht immer auch klug. Man muss auch schauen, ob die andere Seite die gleichen Werte hochhält. Agathokles tat dies nicht und überfiel bald auch Städte in karthagischem Gebiet – das alles noch auf Sizilien. Doch als Karthago nun über 500 Schiffe schickte, um für Ruhe auf der Insel zu sorgen, sandte er – ziemlich frech – seine Schiffe nach Nordafrika. Ein klassischer Zweifrontenkrieg also, den der Schwächere nur selten gewinnt, insbesondere, wenn die ganze Sache etwas länger dauert. Diese vermeintliche Dummheit schadete Agathokles allerdings nicht. Ihm gelang es am Ende, Friedensbedingungen auszuhandeln, die ihn besser stellten als vor dem Krieg. Er verlor kaum Land und wurde um 300 Talente und 200.000 Scheffel Getreide reicher. Ein Talent können wir mit 26 Kilogramm Silber bewerten, in Summe bekam Agathokles also 7,8 Tonnen Silber. Karthago stand zwar nicht territorial aber doch politisch geschwächt dar. Fünf Jahre Krieg mit einem Stadtstaat und ein solcher Friede ziemen sich nicht für eine Großmacht.
Und die Geschichte sollte sich wiederholen. Zwischen 278 und 275 hieß der Gegner Pyrrhus. Den Hintergrund dieser Geschichte und wie sie ausging, das wissen wir schon.
Beide Kriege waren kein Ruhmesblatt für Karthago. Nur mit hohem Aufwand und Glück gelang es, das eigene Terrain zu halten. Für eine Großmacht doch etwas wenig, mochten viele damals gedacht haben. Aber dieser Verlauf ist typisch für den karthagischen Ansatz zur Konfliktlösung. Konflikte wurden nicht politisch, sondern kaufmännisch betrachtet. Gewalt wurde erst nach einer genauen Kosten-Nutzen-Kalkulation eingesetzt. Mit dieser Taktik sicherte man zwar den Handel unter den bekannten Rahmenbedingungen, lief aber Gefahr, die langfristig richtigen und notwendigen strategischen Positionen nicht zu besetzen.
Das nächste Mal beginnt dann mit dem Ersten Punischen Krieg die große Auseinandersetzung mit Rom.