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(127) Europa nach der Völkerwanderung

Mit den Langobarden haben wir die Epoche der Völkerwanderung nun endlich hinter uns gebracht. Ich verstehe, dass Du ein wenig aufatmest, es war eine lange und verworrene Geschichte. Wenn wir als Beginn den Angriff der Hunnen Ende des 4. Jahrhunderts begreifen und als Ende die Inbesitznahme Italiens durch die Langobarden in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts, dann haben wir uns zwei Jahrhunderte angeschaut, die insbesondere Westeuropa nachhaltig verändert haben. Das Weströmische Reich existierte nicht mehr. Folgestaaten waren entstanden, manche wie das Reich der Vandalen auch wieder verschwunden. Blicken wir also kurz auf Europa, wie wir es zu Beginn des 7. Jahrhunderts vorfinden. Es ist der Zeitpunkt, an dem die Spätantike ausklingt und sich sukzessive die Strukturen entwickeln, die das Mittelalter prägen werden.

 

Italien

Italien war durch die Kriege der letzten Jahrzehnte und nicht zuletzt die Pest zu großen Teilen verheert. Die alten Strukturen funktionierten immer weniger und lösten sich auf. Die letzte Senatssitzung, von der wir wissen, fand 603 statt. Viele der senatorischen Familien waren in byzantinisches Gebiet in Süditalien oder ganz nach Konstantinopel geflohen. Die politische Einheit des Landes hatte sich aufgelöst. Langobardische Fürstentümer, fränkisches Einflussgebiet, oströmische Gebiete und mittendrin das Patrimonium Petri, aus dem sich später der Kirchenstaat entwickeln sollte.

 

Afrika

In Afrika herrschte nach dem Sieg Belisars über die Vandalen wieder das Oströmische Reich. Allerdings war dieser Herrschaft wenig Zukunft beschieden. Die Expansion der arabisch-muslimischen Eroberungswelle sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Das starke und große von Geiserich geschaffene Vandalenreich war schnell und geräuschlos untergegangen. Die Vandalen hatten es nicht geschafft, einen nachhaltigen Modus Vivendi weder mit den Berbern noch mit der römischstämmigen Bevölkerung zu finden. Die Unterschiede im Glauben waren hier im Zweifel ein Hemmschuh, auch wenn gerade die Einheit im homöischen Bekenntnis in der Anfangsphase durchaus ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die vandalische Expansion gewesen war.

 

Iberische Halbinsel

In Spanien hatten sich am Ende die Sueben und Westgoten nach ihrer Niederlage in Gallien 507 bei Vouillé gegen die Franken festgesetzt. Die iberische Halbinsel geriet zunehmend aus dem Fokus des Weltgeschehens. Die zeitweise Eroberung einiger Gebiete durch das Oströmische Reich zur Zeit Justinians war letztlich nur eine Episode, Spanien war für Konstantinopel keine großen Opfer wert. So war es dann auch hier die Eroberung durch islamische Truppen, die das Kapitel der westgotischen Herrschaft beendete.

 

Gallien

In Frankreich war die Entwicklung eine gänzlich andere. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts nach dem Rheinübergang von Alanen, Vandalen und Sueben von vielen Plünderungen geschüttelt, kam mit der zunehmenden Erstarkung des Frankenreiches der Merowinger spätestens seit Chlodwig I. eine Macht ins Spiel, die die Zukunft prägen sollte. Völker, die zunächst noch in eigenständigen Reichen lebten, wie die Thüringer, Alemannen oder Burgunder wurden Stück für Stück in das Frankenreich integriert. Wir werden noch sehen, wie dieses sich dann wiederum in das westfränkisch-französische und das ostfränkisch-deutsche Reich aufteilen wird.

 

Britannien

Die Merowinger zählten auch Britannien zu ihrem Einflussgebiet. Die Insel war nach dem Rückzug der Römer zu Beginn des 5. Jahrhunderts weitgehend von den Entwicklungen in Europa abgekoppelt. Ein erster Brexit, wenn Du so willst. Die Besiedlung durch Angeln, Sachsen und Friesen führte nicht zu einer relevanten Reichsbildung. Auch Jüten aus dem südlichen Dänemark und sicher auch Angehörige anderer Stämme waren dabei. Aus dieser Gemengelage bildeten sich Ende des 6. Jahrhunderts sieben Kleinkönigreiche. Northumbria, East Anglia und Mercia werden den Angeln zugesprochen, Essex, Sussex und Wessex den Sachsen und Kent den Jüten. Ab Mitte des 8. Jahrhunderts konzentrierte sich die politische Ordnung auf die Königreiche Northumbria, Mercia und Wessex. Der Kampf gegen die Wikinger, die ab 789 immer wieder das Land bedrohten führte dazu, dass sich ein gemeinsames Königtum unter Alfred dem Großen, König von Wessex (848/849 bis 899), herausbildete. Seine Dynastie bestand dann bis zur Eroberung durch die Normannen im Jahr 1066.

 

Skandinavien

Wenig sagen können wir weiterhin über die Entwicklungen in Skandinavien. Hier wurde ja häufig der Ursprung der Völker gesucht, die uns in der Völkerwanderung begegnet sind. Wenn es eine Insel Gotland gibt, dann wird das wohl die eigentliche Heimat der Goten gewesen sein. Wir haben gelernt, dass es so einfach nicht ist. Auf Bornholm als mögliche ursprüngliche Heimstatt der Burgunder haben wir schon hingewiesen. Dass das alles Spekulationen ohne irgendwelche unterlegenden Indizien sind, ist allerdings auch wahr. Aus archäologischen Funden wissen wir von einem wirtschaftlichen Aufschwung Ende des 6. Jahrhunderts. Schon lange vorher, bis in die vorchristliche Zeit hinein, hatte es enge wirtschaftliche Kontakte in den Süden gegeben, so dass die wirtschaftliche Erholung des Mittelmeerraums nach der Pestepidemie ein Auslöser hierfür gewesen sein mag. Politische Strukturen, die auf andere Reiche wirkten, entstanden aber erst mit den Wikingern im 8. Jahrhundert. Diese werden uns sicher noch beschäftigen.

 

Persien und der Osten

Im Osten dominierte weiterhin der jahrhundertealte Konflikt zwischen Römern und Persern. Wenn wir an deren Grenzen schauen, finden wir eine Reihe von Völkern, die die Geschichte nachhaltig beeinflusst haben. Awaren und Bulgaren sind uns ja schon beiläufig untergekommen. Seit den 520er Jahren hatte es immer wieder Überfälle auf die römischen Balkanprovinzen gegeben. Zunehmend werden diese den Slawen zugeschrieben. Eine Reihe von Völkern tauchte im Nordosten des Reiches auf. Die Kutriguren halfen den Gepiden in ihrem Kampf gehen die Langobarden. In Folge plünderten sie oströmisches Gebiet und wurden von den Utiguren in gegenseitigen Kämpfen gebunden. Dies war zu großem Teil auch Erfolg der oströmischen Politik, die sehr darauf bedacht war, dass potentielle Gegner sich möglichst gegenseitig schwächten. Divide et impera. Die Awaren werden wir noch näher kennenlernen, wenn wir uns mit dem Byzantinischen Reich beschäftigen. 626 belagerten sie im Bündnis mit den Persern Konstantinopel – allerdings erfolglos.

 

Was die Awaren an Bedrohung für die Römer darstellten, waren die Kök-Türken für die Perser. Diese hatte von 552 bis 742 im Gebiet zwischen dem Kaukasus und der Mongolei ein Kaganat errichten können, was zwischenzeitlich (659 bis 682) von der chinesischen Tang-Dynastie und letztlich von den Uiguren besiegt wurde. Dadurch nach Westen gedrängt bereiteten die Kök-Türken insbesondere den Persern immer wieder Ungemach durch Überfälle an der Nordgrenze.

 

Wir müssen erkennen, dass die Welt immer vernetzter wurde. Kämpfe zwischen Kök-Türken und Chinesen wirkten über die Kette Persien und Ostrom unmittelbar bis nach Westeuropa. Das alles immer im Blick zu behalten, fordert uns deutlich. Wir lassen uns aber nicht unterkriegen und machen uns unverzagt auf zum nächsten Schritt unserer langen Wanderung durch die Weltgeschichte, die uns dann irgendwann auch nach China und Zentralasien führen wird.

 

Da wir zuletzt schon viel über das Oströmische Reich gesprochen haben, sind wir gut vorbereitet, wenn wir dessen Geschichte nun einmal insgesamt anschauen. Unsere Beschäftigung mit dem Byzantinischen Reich beginnen wir mit einem Blick auf die Ausbreitung des Christentums. Die Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Lehrmeinungen vor allem auch der Arianer waren ja zur Zeit der gesamten Völkerwanderung ein wesentlicher Treiber des politischen Handelns. Auch wenn wir uns weiterhin nicht mit den Einzelheiten befassen wollen, waren die Entwicklungen in der kirchlichen Ausgestaltung des Christentums, insbesondere in dem sich herausbildenden Gegensatz zwischen der orthodoxen und katholischen Kirche, in den nächsten Jahrhunderten auch für die politische Geschichte prägend.