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(37) Minoer und Mykene

Die Minoer

Wir steigen nun langsam in die eigentliche griechische Geschichte ein. Der Startpunkt liegt auf Kreta, wo wir in der Bronzezeit die minoische Kultur finden. Das Labyrinth, in dem der Minotaurus lebte, ist uns ein Begriff. Ebenso der Faden der Ariadne, mit dem sich Theseus nach seinem Sieg über den Stiermenschen daraus befreien konnte. Und auch mit den Flugpionieren Dädalus und Ikarus verbinden wir Kreta. Die Geburtshöhle des Göttervaters Zeus kannst Du ebenfalls dort besichtigen und nicht zuletzt war Kreta der Ort, wohin Zeus in Gestalt eines Stieres die phönizische Königstochter Europa entführte. Auf das Nacherzählen der bekannten Sagen und Geschichten verzichten wir jetzt aber, sondern schauen, was wir von den Minoern wirklich wissen.

 

Diese erste Hochkultur Europas entwickelte sich auf der Mittelmeerinsel ab etwa 2600 v. Chr., also zur Zeit der ersten bis zur vierten Dynastie in Ägypten. Pyramiden finden wir allerdings keine. Die minoische Kultur war eine sogenannte Palastkultur. Der Palast war dabei nicht allein Herrschersitz, sondern gleichzeitig Wirtschafts-, Handels- und Verwaltungszentrum.

 

Mit einer Chronologie von Regierungszeiten oder gar den Namen von Herrschern (oder Herrscherinnen) kann ich leider nicht dienen. Im Gegensatz zu den Hieroglyphen der Ägypter ist die Linear A genannte Schrift der frühen Minoer bisher so gut wie nicht entschlüsselt. Insofern sind das Erkennen und Datieren historischer Ereignisse sehr schwierig. Wir waren in Ägypten ja schon häufig unsicher genug, obwohl die Hieroglyphenschrift ja dank Herrn Champollion gelesen werden kann. Aus Genomanalysen wissen wir, dass die Minoer eng verwandt mit den Mykenern auf dem Festland waren, die von der vorauslaufenden Entwicklung der minoischen Kultur durchaus profitierten.

 

Hinsichtlich einer groben Periodisierung des Geschehens existieren zwei beeindruckende Vorschläge. Die einen unterscheiden abhängig von Stilveränderungen in den Keramik-Fundstücken eine früh-, mittel- und spätminoische Epoche. Die anderen orientieren sich an der Entwicklung der Schrift vom Linear A zum näher am Griechischen liegenden Linear B und vor allem an dem Aufbau respektive der Zerstörung der Palast-Zentren. Diese Phasen heißen dann Vorpalastzeit, Alte Palastzeit, Neue Palastzeit und Nachpalastzeit. Mit den ägyptischen Perioden des Alten, Mittleren und Neuen Reiches sind wir auf solche für sich sprechenden Namensgebungen ja hinreichend vorbereitet.

Anhand von in Ägypten entdeckten und daher datierbaren kretischen Fundstücken versuchen findige Forscher, diesen Phasen Spannen von Jahreszahlen zuzuordnen. Nach diesen Einteilungen beginnt die frühminoische Epoche bzw. die Vorpalastzeit wie gesagt um 2600 v. Chr., die mittelminoische oder Ältere Palastzeit folgt um 1900 v. Chr., die spätminoische oder Neuere Palastzeit dann um 1700 v. Chr. Die Nachpalastzeit liegt dann zwischen 1450 und 1150 v. Chr. Auch hier scheinen die Auslöser für den Seevölkersturm eine Hochkultur beendet zu haben. Die Hethiter traf es also nicht alleine.

 

Was wissen wir von den Geschehnissen in diesen Epochen? Wenn wir ehrlich sind: nicht viel. Die sogenannte Alte Palastzeit ist durch drei große Paläste in Knossos, Malia und Phaistos gekennzeichnet. Der hohe Umfang an gefundenen Schriften lässt auf eine gut organisierte, hochstehende Kultur schließen, wobei vermutlich Knossos spätestens in der Neupalastzeit eine führende Rolle einnahm. Dies schließen die Forscher aus der Analyse von mit Ringabdrücken versiegelten Tonplomben, die kleine Schriftstücke aus Pergament oder Leder enthielten.

 

Ein besonderes Exemplar ist eine in Phaistos gefundene Tonscheibe, der sogenannte Diskos von Phaistos. Das Einzigartige an diesem Fundstück ist, dass es kreis- bzw. spiralförmig bedruckt ist. Mit kleinen Stempeln sind 45 unterschiedliche, immer wiederkehrende Symbole in den Ton gedrückt worden. Die Bedeutung ist unklar, die Ideen der Forscher gehen für ein bestimmtes dieser 45 Zeichen von »Berg« oder »Felsformation« über »Joch« bis hin zu »Fußschemel« oder gar »Handschelle«. Was uns der Diskos auch immer sagen will, wir freuen uns über die Erfindungsgabe der Minoer und denken ein wenig an Herrn Gensfleisch aus Mainz und die Einzigartigkeit seiner Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern.

 

Knossos überstand die Erdbeben, die die Alte Palastzeit beendeten, am besten. Man vermutet, dass es den Herrschern von Knossos gelang, in Folge ganz Kreta zu beherrschen. Wir können aber gar nicht sicher sein, dass wir hier wirklich von »Herrschern« sprechen dürfen. Aus der häufigen und sehr prominenten Darstellung von Frauen leiten manche Forscher ab, dass es sich bei der minoischen Kultur um eine matriarchalisch organisierte gehandelt habe. Viele Indizien sprechen dafür, auch die wenig kriegerisch ausgerichtete Lebensform auf der Insel. Ein konkreter Beweis existiert allerdings noch nicht.

 

Neben den Erdbeben beeinträchtigen weitere Katastrophen das Leben, so im 17. Jahrhundert v. Chr. der Ausbruch des Thera-Vulkans auf Santorin. Wir sprachen bereits in Assyrien und Ägypten darüber. Bei anderen Ereignissen, so etwa bei der Zerstörung vieler kleinerer Paläste um 1450 v. Chr. rätselt man noch über die Ursachen. Naturkatastrophen, aber auch innenpolitische Kämpfe oder Angriffe von außen stehen auf der Kandidatenliste. Letzteres ist nicht ganz unwahrscheinlich, da die Forscher davon ausgehen, dass die Minoer eine ganze Reihe von Handelsstützpunkten in der Ägäis und auch darüber hinaus unterhielten. Dies könnten wir als Indiz für eine florierende Wirtschaft nehmen, die zu erkennbarem Reichtum der Minoer geführt hat, was wiederum ein hinreichendes Motiv missgünstiger Menschen gewesen sein könnte. Einige haben hier die Mykener im Verdacht, ganz eindeutig ist dieser Befund jedoch nicht. Dafür spricht aber auf jeden Fall, dass zu dieser Zeit mit Waffenbeigaben ausgestattete Gräber mykenischen Stils auf Kreta auftauchen. Wahrscheinlich war es so, dass die Mykener den Minoern zwar kulturell unterlegen, jedoch militärisch und an Handlungswillen überlegen waren und sich so am Ende durchsetzen konnten. Dabei übernahmen sie viele Errungenschaften der Minoer und entwickelten sich entsprechend weiter. Die minoische Kultur hielt sich noch bis etwa 1050 v. Chr., wobei sie sich zunehmend mit mykenischen Elementen durchsetzte.

 

Von den Minoern bleiben uns also: keine Namen, eine nicht entzifferte Schrift, aber ein 13.000 Quadratmeter großer Palast in Knossos, dessen Ausstattung und Malereien von einer beeindruckenden Kunstfertigkeit zeugen, und in dessen unmittelbaren Umfeld immerhin 50.000 Menschen gelebt haben. Vielleicht ein Matriarchat, nicht zuletzt war es mit Ariadne ja eine Frau, die das Rätsel des Labyrinths klug gelöst hat. Wenn es irgendwann gelingt, die Linear A-Schrift zu enträtseln, werden wir die Geschichte sicherlich differenzierter und spannender erzählen können. Vielleicht versuchst Du es an einem langweiligen Nachmittag 'mal. Die Wissenschaft wäre Dir dankbar.

 

Mit der Eroberung der minoischen Paläste haben sich die Mykener ja bereits eingeführt. Ihre Linear-B-Schrift können wir lesen, es ist eine Vorstufe des heutigen griechischen Alphabets. Und damit wären wir dann auch bei den Festland-Griechen. Auf geht’s.

 

Mykene

Die topographische Beschaffenheit des griechischen Festlandes mit seiner durch viele Gebirge bedingten Zergliedertheit haben wir schon kurz erwähnt. Dies begünstigte die Entwicklung vieler unabhängiger, kleiner Stadtstaaten. Dies gilt umso mehr für die vielleicht 100 bewohnbaren Inseln der Ägäis.

Hatten wir den Beginn der Hochzeit der minoischen Kultur auf Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. datiert, dauerte es auf dem Festland ein wenig länger. Ab 1600 v. Chr. finden wir die ersten archäologischen Funde, die auf eine hochstehende Kultur deuten. Von den Minoern abgeschaut haben sich die Festlandgriechen die Idee der Palastkultur. Wir finden wichtige Paläste überraschenderweise in Mykene, aber auch in Pylos, in Tyrins in der Nähe von Argos auf der Peloponnes oder bei Theben in Böotien. Das passte auch gut zu der zerklüfteten Landschaft. Es gab nicht ein einheitlich mykenisches Reich, jede Stadt war selbstständig, jeder sein kleiner König. Wir kennen dies aus der Ilias von Homer, wo Agamemnon eben nicht der Herrscher aller Griechen war. Odysseus herrschte auf Ithaka, und ob er bei dem Krieg gegen Troja mitmachte, entschied er für sich alleine. Von Vorteil war, dass sich dennoch eine einheitliche Sprache entwickelt hatte, allerdings noch nicht so etwas, was wir mit nationaler Identität bezeichnen würden. Sprache und die übergreifend benutzte Linear B-Schrift sind Vorstufen des Griechischen. Die Linear B-Schrift ist, wie der Name unschwer verrät wohl eine Weiterentwicklung der minoischen Linear-A-Schrift. Die ersten Nachweise finden sich um 1450 v. Chr. auf Tontäfelchen aus Knossos und aus anderen kretischen Palästen – im Zuge der Machtübernahme durch die Mykener. Diese Zeugnisse sind zufällig erhalten geblieben. Es waren eher langweilige Texte wie Inventarlisten der Palastbürokratie, die in weichen Ton geritzt nicht für die Ewigkeit bestimmt waren, bei den Feuersbrünsten, die die Paläste zerstörten, aber gebrannt wurden, und so die Zeiten glücklicherweise doch überdauerten. Auf die große Bedeutung von Buchhaltung und Bürokratie für die Kulturgeschichte der Menschheit haben wir ja bereits hingewiesen, hier haben wir einen neuerlichen Beweis.

 

Wir können die mykenische Kultur also durchaus als Fortsetzung der minoischen betrachten. Natürlich gab es auch auf dem Festland eine Entwicklung in der Bronzezeit, die in der Literatur als Früh- und Mittelhelladikum bezeichnet werden. Diese interessieren uns aber hier nicht weiter, da sie wenig Wirkung über den jeweiligen lokalen Standort hinaus hatten. Wir schauen uns lieber das Späthelladikum oder eben die mykenische Kultur an. Wobei man leider sagen muss, dass nicht wirklich viel zu erzählen ist. Wir wissen von den Kontakten mit den Hethitern, wobei das Land Ahhijawa mit dem mykenischen Griechenland gleichgesetzt wird. Aus dieser hethitischen Bezeichnung soll sich der Begriff Achäer für die Griechen herleiten. Ob es ein wirklich zusammenhängendes mykenisches Reich gegeben hat, ist unsicher. Zwar spricht der hethitische König den König Ahhijawas als »Bruder« an, was auf ein »Großreich Mykene« deuten könnte. Es gibt aber – Linear B zum Trotz – keine schriftlichen Quellen von diesem Bruder oder seinen Vorfahren oder Nachkommen. Das spricht dann eigentlich wieder gegen so etwas wie ein größeres, politisch aktives Reich, auch wenn sich auf der künstlerisch-kulturellen Seite über die Regionen hinweg ein sehr einheitliches Bild an Keramik und anderen Kunstgegenständen ergibt. Diese finden wir nicht nur in Griechenland, sondern im gesamten Mittelmeerraum, in Spanien, der Poebene, auf Sizilien und bis in den Schwarzmeerraum beispielsweise in Bulgarien. Es sind Zeugnisse der weitverzweigten Handelsbeziehungen der Mykener. Es mag also auch so gewesen sein, dass die einzelnen Stadt- oder Palaststaaten nebeneinander existierten, unter ihnen größere und kleinere, die sich vielleicht in einer gewissen Abhängigkeit befanden und sich unter den Schutz eines starken Nachbarn stellten. Die Details kannte der hethitische König nicht und sprach den Herrscher von Mykene – oder eines anderen großen Palastes – als gleichberechtigten König an, der sich ein wenig gebauchpinselt fühlte und auf eine Präzisierung der Größe seines Machtbereiches verzichtete. Es mag aber auch anders gewesen sein.

 

In späteren Jahren werden die Befestigungen der Paläste immer mehr verstärkt, unter Umständen eine Reaktion auf die zunehmend unsicheren Zeiten, die im Zusammenhang mit den Seevölkern um 1200 v. Chr. hereinbrechen. Früher meinte man auch, eine massive Einwanderungswelle von Norden her, die sogenannte Dorische Wanderung, erkennen zu können. Mittlerweile geht die Forschung davon aus, dass es sich nicht um einen relativ kurzen, gewaltsamen Prozess gehandelt hat. Vielmehr hätten sich die Dorer aus Dalmatien oder aus der namensgebenden mittelgriechischen Landschaft Doris kommend über viele Jahre in kleinen Gruppen in Griechenland angesiedelt. Die Verstärkung der Paläste und Stadtmauern konnte letztlich aber nicht verhindern, dass es den Mykenern erging wie ihren Kollegen aus Hatti oder Ugarit. Sie hielten dem Seevölkersturm nicht stand, ihre Paläste wurden zerstört, so wie sie 250 Jahre zuvor die Paläste der Minoer zerstört hatten. Auch aus der Zeit danach finden sich Spuren mykenischer Kultur, allerdings auf erkennbar niedrigerem Niveau als vor 1200 v. Chr.

 

Es folgten dann die Dunklen Jahrhunderte. Wir sprachen bereits darüber.

Mit den Minoern und Mykenern haben wir zwei Hochkulturen kennengelernt, die uns leider zu wenig hinterlassen haben, um eine wirkliche Geschichte zu erzählen. Wir könnten auf die Mythologie ausweichen und die Sage von Atreus, dem König von Mykene und Vater von Agamemnon und Menelaos erzählen, die beide vor Troja kämpften. Es ist aber keine schöne Geschichte, viele Tote, wenig Demut, der Fluch der Götter lastete auf den Atriden. Lassen wir dies lieber ruhen, verweisen auf Herrn Schwab oder Herrn Ranke-Graves und schauen, wie es in Griechenland weiterging.

 

Sagenhafte Herkunft

Dabei begegnen wir immer wieder unterschiedlichen Bezeichnungen der griechischen Stämme. Der Sammelbegriff Hellenen kommt von Hellen, dem Sohn des thessalischen Königs Deukalion, der wiederum Sohn des Prometheus ist, einem Gott aus dem Geschlecht der Titanen. Wir erinnern uns gerne an ihn, da er den olympischen Göttern das Feuer stahl, welches sie den Menschen vorenthielten. Eine lange Geschichte… Deukalion war der Noah der griechischen Mythologie, der das Menschengeschlecht auf Weisung seines Vaters durch Bau eines Schiffes rettete. Mit seiner Frau Pyrrha schuf er nach überstandener Sintflut durch das Werfen von Steinen über ihre Schulter neue Menschen, »ein hartes Geschlecht, in Drangsal erfahren«. Nun weisst Du, warum wir uns gegenseitig so selten freundlich und entspannt begegnen. Hellen wiederum zeugte mit einer Nymphe drei Söhne, Aiolos, Doros und Xuthos, der wiederum mit Achaios und Ion zwei Söhne hatte.

Und so haben wir die Äoler, die Dorer, die Achäer und die Ionier als griechische Stämme in der Welt. Die Ionier siedelten im Osten, auf Euböa, Naxos und Chios und ab dem 11. Jahrhundert in Folge der Ionischen Kolonisation im Südwesten Kleinasiens mit Ephesos und Milet als großen Städten. Wir finden sie auch am Hellespont und auf Chalkidike. Die Dorer haben wir schon kennen gelernt, ihre Wanderungen endeten auf dem Peloponnes rund um Argos und Sparta, wir finden sie aber auch auf Kreta und Rhodos und auf der dieser Insel gegenüberliegenden Halbinsel Kleinasiens. Die Äoler finden wir auf dem griechischen Festland in Thessalien und Böotien mit Theben sowie im Nordwesten Kleinasiens mit Pergamon und Smyrna als wichtigen Städten. Das Stammland der Achäer ist der Norden der Peloponnes mit den Inseln Zakynthos und Kefalonia im Ionischen Meer westlich von Griechenland. Ein Blick – oder besser ein Hinhören – auf die griechischen Dialekte zeigt uns bzw. eher den Sprachwissenschaftlern, dass es noch drei weitere Nachkommen von Deukalion gegeben haben muss. Auf Zypern und in der Zentral-Peloponnes, die in der Literatur mit ihrem Namen Arkadien berühmt geworden ist, wird ein eigener Dialekt gesprochen. Das Attische von Athen findet sich auch auf einigen Inseln wie Lemnos in der Nordägäis. Im Nordwesten des Festlandes, in Epiros, finden wir von Delphi bis hoch ins heutige Albanien den Dialekt der epirotischen Stämme, während auf den in Sichtweite liegenden Inseln im Ionischen Meer wie beispielsweise Korfu wieder dorisch gesprochen wird. So haben wir anhand der Dialekte schon einen ersten Überblick über die Gegend, die uns die nächsten Folgen beschäftigen wird.

 

Wir machen das nächste Mal mit Sparta weiter.